Wien, 20.10.2025
STELLUNGNAHME ZUM BUNDESGESETZ ZUR STÄRKUNG DER SELBSTBESTIMMUNG UNMÜNDIGER MÄDCHEN AN SCHULEN MITTELS EINFÜHRUNG EINES KOPFTUCHVERBOTS
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (ALEVI) nimmt zum oben genannten Gesetzesentwurf wie folgt Stellung:
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Für Alevitinnen stellt das Tragen eines Kopftuchs keine religiöse Pflicht dar. Unser Glaube gründet auf innerer Spiritualität, moralischem Verhalten und dem Menschwerdungsprozess. Der Weg zu Gott führt für uns über das reine Herz – gönül – und über verantwortungsvolles Handeln im Alltag. Wenn Alevitinnen dennoch ein Kopftuch tragen, so geschieht dies ausschließlich auf freiwilliger, persönlicher Basis, häufig aus kulturellen oder ländlich traditionellen Gründen – jedoch nicht aus alevitisch-religiöser Verpflichtung heraus.
Gerade deshalb ist für uns religiöse Selbstbestimmung ein hohes Gut, das aus einer freien und reflektierten Entscheidung hervorgehen muss. Kinder und Jugendliche sollen ohne äußeren Zwang, ohne familiären Druck oder gesellschaftliche Erwartungen aufwachsen können. Sie brauchen Freiräume zur Entwicklung ihrer Identität, um ihren eigenen Lebensweg kritisch und selbstbestimmt gestalten zu können.
Zwang entsteht dort, wo Religion falsch interpretiert, patriarchalisch und politisch instrumentalisiert wird. Genau hier sollte politische und gesellschaftliche Prävention ansetzen: durch Bildungsarbeit, Empowerment, Elternbildung, schulische Präventionsprogramme, psychosoziale Unterstützung und Aufklärung über Kinderrechte und Gleichberechtigung.
Als gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaft möchten wir betonen, dass Religionsfreiheit ein zentrales Grundrecht ist, das in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft nicht nur den Schutz der Religionsausübung gewährleistet, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen und jeder Familie in Fragen der Weltanschauung und religiösen Praxis. Eine Einschränkung dieses Rechts bedarf besonders sorgfältiger Abwägung, insbesondere, wenn sie eine bestimmte religiöse Gruppe unmittelbar betrifft.
Wir sehen im gegenständlichen Gesetzesentwurf keine nachhaltige Maßnahme zum Schutz der Mädchenrechte. Ein solcher politischer Zugang – unabhängig von dessen theologischer Relevanz im Alevitentum – kann den Eindruck erwecken, dass einzelne religiöse Gruppen unter Generalverdacht gestellt werden. Das widerspricht dem Geist eines respektvollen, gleichberechtigten Zusammenlebens.
Die Vergangenheit lehrte uns, dass sowohl die strikte Ablehnung religiöser Symbole oder das Verbot des Kopftuchs als auch dessen verpflichtende Einführung für Schülerinnen und Studentinnen häufig zu einer gesellschaftlichen Gegenbewegung führten. In solchen Fällen konnten sich bestimmte religiöse Gruppen oder Strömungen im Lichte solcher Verbote als Opfer darstellen und dadurch fundamentalistische Tendenzen innerhalb ihrer Gemeinschaften bestärken.
Wir möchten festhalten, dass Schulen Orte der freien Entfaltung und der Bildung sein müssen – Räume, in denen Schüler:innen ohne Zwang oder Verbote ihre Persönlichkeit und auch ihre religiöse Identität entwickeln können. Schutz vor Bevormundung darf nicht durch neue Formen des Zwangs ersetzt werden. Die oberste Prämisse der gesetzlichen Handlung muss das Kindeswohl sein.
Aus einer Bildungsperspektive ist darauf hinzuweisen, dass ein gesetzliches Kopftuchverbot in der Praxis zahlreiche Herausforderungen mit sich bringt.
Die Umsetzung und Kontrolle eines solchen Verbots im Schulalltag sind mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Lehrkräfte und Schulleitungen würden in eine schwierige Rolle gedrängt, in der sie religiöse oder kulturelle Ausdrucksformen beurteilen und gegebenenfalls sanktionieren müssten. Dies birgt das Risiko von Missverständnissen, Stigmatisierung und Vertrauensverlust zwischen Schülerinnen, Eltern und der Schule. Zudem ist zu bedenken, dass ein Verbot nicht notwendigerweise zu mehr Selbstbestimmung führt – vielmehr könnten betroffene Mädchen dadurch in familiäre oder soziale Konflikte geraten oder sogar aus dem Bildungssystem gedrängt werden. Damit würde das eigentliche Ziel des Gesetzes, nämlich der Schutz und die Förderung junger Mädchen, konterkariert.
Auch aus gesellschaftlicher Perspektive droht ein solcher Eingriff zu Polarisierung und Ausgrenzung zu führen. Verbote schaffen selten Verständnis oder Emanzipation, sondern verstärken oft bestehende Vorurteile. Der gewünschte Schutz kann nur durch Bildungsarbeit, Sensibilisierung und den Dialog mit Familien und Religionsgemeinschaften erreicht werden – nicht durch Sanktionen oder Verbote.
Die Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (ALEVI) ruft daher die Verantwortlichen dazu auf, den Weg des Dialogs zu wählen und auf eine Politik des Respekts, der Kooperation und des gegenseitigen Vertrauens zu setzen. Nur durch einen offenen und kontinuierlichen Austausch mit den gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften und Umsetzung von Maßnahmen in der Bildungsarbeit lässt sich eine inklusive Gesellschaft gestalten.
Wir stehen als Glaubensgemeinschaft für ein friedliches Zusammenleben, für Vielfalt, Bildungsgerechtigkeit und Menschenrechte.
Mit freundlichen Grüßen
YÜKSEL BILGIN
Präsident

[ Stellungnahme als PDF Dokument ]
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